Titelfoto: Hybrid-Flachs Pavillon, Landesgartenschau Wangen im Allgäu (© ICD/ITKE/IntCDC University of Stuttgart)
Wie ein einzigartiges Ausstellungsgebäude biobasierte Bauinnovationen veranschaulicht
Der Hybrid-Flachs Pavillon ist ein zentraler Ausstellungsbau auf dem Landesgartenschaugelände, umgeben vom renaturierten Flusslauf der Argen. Das innovative Bauwerk zeigt neue Wege in der Architektur auf: Die hier erstmals gezeigte Holz-Naturfaser-Hybridkonstruktion dient als dauerhaftes Ausstellungsgebäude und zugleich als Demonstration nachhaltiger Bauweisen, die als Alternative zu konventionellen Bauweisen infrage kommen. Die in dieser Form einzigartige Konstruktion wurde am Exzellenzcluster „Integratives Computerbasiertes Planen und Bauen für die Architektur (IntCDC) erforscht und kombiniert schlanke Brettsperrhölzer mit robotisch gewickelten Flachsfaserkörpern in einem neuartigen, ressourcenschonenden Tragsystem aus regionalen, biobasierten Bauwerkstoffen mit einem besonderen örtlichen Bezug. So wurde Flachs vormals in der örtlichen Textilindustrie verarbeitet, deren altes Spinnereigelände im Zuge der Landesgartenschau saniert wurde.
Das Gebäude beeindruckt durch seine wellenförmige Dachkonstruktion und vollständig transparente Glasfassaden, die den Innenraum großzügig öffnen und ihn mit der umgebenden Natur verschmelzen lassen. Besucher können von allen Seiten eintreten und sich im weitläufigen Innenraum frei bewegen. Inspiriert vom sanften Verlauf des Argen-Flusses, erzeugt das geschwungene Dach eine Abfolge fließender Raumzonen, die ein Gefühl von Weite schaffen und den Blick über die Grenzen des Gebäudes hinausführen.
Im Zentrum des Pavillons befindet sich ein Klimagarten, der nicht nur als ästhetisches Element dient, sondern auch für natürliche Querlüftung und Kühlung sorgt. Unterstützt wird dieser umweltfreundliche Ansatz durch eine geothermisch aktivierte Bodenplatte aus recyceltem Beton und CO₂-reduzierten Zement. Dieses Zusammenspiel ermöglicht ganzjährig ein angenehmes Raumklima ohne aufwendige technische Systeme.
Eine bahnbrechende Hybridkonstruktion
Das Dach ist ein technisches Highlight: Es handelt sich um die weltweit erste Hybridkonstruktion aus Brettsperrholzplatten (BSP bzw. CLT) und Naturfaserkörpern aus Flachs, die durch kernloses Wickeln von Flachsfasern hergestellt wurde. Die Flachsfasern bilden zusammen mit herkömmlichen Holzelementen die charakteristische Dachstruktur. Insgesamt überspannen 20 Hybridbauteile sowie weitere konventionelle Holzkomponenten die 380 m² große Ausstellungsfläche und schaffen einen stützenfreien Raum. Ziel dieser hybriden Bauweise ist es, die Materialeffizienz zu maximieren, indem die Stärken von Holz und Naturfaserverbundstoffen optimal genutzt werden.
Dank hochpräziser Vorfertigung und interdisziplinärer Planung war die Montage der 44 Deckenelemente vor Ort in nur acht Tagen abgeschlossen. Der effiziente Bauablauf demonstriert, wie modernste Methoden und Materialien für nachhaltiges und schnelles Bauen kombiniert werden können.
Digitaler Entwurf und integrative Planung
Die Planung des Pavillons basierte auf digitalen, integrativen Methoden, die verschiedene Fachdisziplinen frühzeitig zusammenbrachten. Dieser Ansatz stellte sicher, dass alle technischen und gestalterischen Anforderungen – von der Entwicklung der hybriden Faser-Holz-Komponenten bis zu den Schnittstellen zu konventionellen Bauelementen wie Fassade und Dach – effizient berücksichtigt wurden. Die flexible, iterative Entwurfsweise ermöglichte es, Anpassungen in allen Phasen vorzunehmen und das Projekt innerhalb von nur 12 Monaten vom Konzept bis zur Fertigstellung zu realisieren.
Die Zusammenarbeit zwischen Forschung, Handwerk und Industrie zeigt, wie regionale, kleine Unternehmen hochinnovative Architektur realisieren können. Der Hybrid-Flachs Pavillon steht nicht nur für technische Innovation, sondern auch für den erfolgreichen Wissenstransfer zwischen Wissenschaft und Praxis.
Innovatives Bausystem: Hybride Kombination aus Naturfasern und Holz
Das neuartige Faser-Holz-Hybridsystem kombiniert die spezifischen Stärken von Holz und Naturfasern, um leichte, aber dennoch hoch leistungsstarke Bauteile zu schaffen, die zugleich ressourcenschonend und effizient sind. Durch die Verwendung von Flachsfasern zur Verstärkung der dünnen Holzplatten können schnell nachwachsende Materialien für die Bauindustrie nutzbar gemacht werden. Diese Technik verdeutlicht, wie der steigende Bedarf an Bauholz aus regionalen Ressourcen nachhaltiger gedeckt werden kann.
Das Bausystem wurde mit Blick auf eine zirkuläre Bauweise entwickelt. Alle Hybridkomponenten lassen sich sortenrein zerlegen, sodass sie in der Zukunft wiederverwendet oder -verwertet werden können. Dank einer abgestuften Variation der Flachsfaserkomponenten erfüllen die Bauteile gezielt unterschiedliche statische Anforderungen: Während die Fasern Zugkräfte aufnehmen, sorgen die Holzplatten für die nötige Druckstabilität. Diese Kombination ermöglicht nicht nur die Schaffung stabiler und steifer Bauteile, sondern auch die Bewältigung der hohen Schneelasten am Alpenrand.
Präzise Entwicklung und innovativer Materialeinsatz
Die Entwicklung des Faserkörpers erfolgte durch eine enge Abstimmung zwischen architektonischen Anforderungen, statischen Berechnungen, Einschränkungen aus der Fertigung und Materialeigenschaften. Der Flachsfaserkörper besteht aus mehreren sequenziell gewickelten Flachsfaserlagen:
- Primäre Faserstruktur: Diese auch „Spine“ genannte Lage wirkt als zentraler Unterzug von innen nach außen.
- Fächerlage: Diese Lage verteilt die Belastungen gleichmäßig auf die Stützen.
- Gitternetzschichten: Sie bilden ein optisch markantes und gleichzeitig tragfähiges Fasernetz.
- Eckverstärkung: Zwei zusätzliche - Eckverstärkungslagen verbessern die Stabilität in strukturell kritischen Bereichen.
Technische Details und Montage
Die Faser-Holz-Hybridbauteile überspannen eine Distanz von 8,6 Metern zwischen den Stützen entlang der beiden Fassaden. Die 120 mm dicken, radial angeordneten Platten aus Brettsperrholz formen das wellenförmige Dach. Mit einer 5-Achs-Fräsmaschine wurden die Platten präzise bearbeitet, sodass sie Aussparungen für die Verbindungen zwischen Holz, Faser und Fassade sowie abgeschrägte Kanten, die kontinuierlich ihren Winkel ändern, um den variierenden Orientierungen der Faserverbindungen zu entsprechen.
Die Flachsfaserkomponenten sind unter jeder zweiten Brettsperrholzplatte verschraubt, wodurch die Hybridstruktur entsteht. Diese Konstruktion kombiniert die Flexibilität der Fasern mit der Stabilität des Holzes und ermöglicht eine zuverlässige Lastaufnahme. Um die Tragfähigkeit zu überprüfen und die Finite-Elemente-Modelle zu kalibrieren, wurden umfangreiche statische Tests durchgeführt.
Nachhaltige Bauweise für die Zukunft
Dieses hybride Bausystem beweist, wie durch die gezielte Kombination von Holz und Naturfasern innovative, nachhaltige Lösungen für die Bauindustrie entstehen können. Der Ansatz verbindet technische Leistungsfähigkeit mit Ressourcenschonung und bietet neue Möglichkeiten für zukunftsfähige Architektur.
Von der Prototypenentwicklung mit Robotern zur industriellen Faserproduktion
Im Zentrum der Entwicklung und Herstellung der Faserelemente steht ein innovativer, kernloser Faserwickelprozess. Dieses Verfahren ermöglicht es, den Materialauftrag präzise und lokal an den statischen, architektonischen und materialbedingten Anforderungen auszurichten, ohne auf eine Schalung angewiesen zu sein. Statt eine Schalung zu verwenden, wird der Wickelrahmen gemeinsam mit dem Faserelement entworfen, sodass der endgültige Faserkörper durch das Zusammenspiel der Fasern während des Wickelns entsteht.
Um die spezifischen Anforderungen des Projekts zu erfüllen, musste der Faserwickelprozess an das natürliche Flachsfasermaterialsystem und die komplexe Geometrie des Faserkörpers angepasst werden. Üblicherweise erfordert die Herstellung positiver Krümmungen eine zusätzliche Form, die hier eingesetzten Bauteile enthalten jedoch sowohl positive als auch negative Gaußsche Krümmungen. Um dies zu realisieren, wurde der Wickelrahmen mit einer tragenden Rückgratstruktur – der sogenannten „Spine“ – ausgestattet. Diese erlaubt es, sowohl die positive Längskrümmung als auch die negative Querkrümmung zu integrieren. Gleichzeitig stellt die Spine die notwendige Struktur für den selbsttragenden Rahmen dar.
Die Ankerpunkte für das Wickeln wurden entlang des Umfangs des Rahmens, basierend auf der Normalen der Oberfläche ausgerichtet. Diese präzise Ausrichtung gewährleistet eine konsistente Faserrichtung und die effektive Übertragung von Kräften zwischen Holz und Faserbündeln – ein wesentlicher Aspekt für die Leistungsfähigkeit der Hybridkomponenten.
Von der Forschung zur industriellen Umsetzung
Die Geometrie, die Faserstruktur und die Herstellungsprozesse wurden durch eine Serie von Prototypen an der Universität Stuttgart entwickelt und getestet. Hierfür kam ein 6-Achs-Roboterarm mit einem speziell zu diesem Zweck angefertigten Endeffektor zum Einsatz. Nach Ende der Prototypenphase, die auch statische Belastungstests umfasste, wurde der finale Entwurf an den Industriepartner übergeben, der die Serienproduktion mit einer industriellen 5-Achs-Faserwickelmaschine durchführte.
Durch die Integration der Fertigungsplanung in den computerbasierten Entwurfsprozess wurde die Produktion optimiert. Eine speziell entwickelte Software übersetzte die geometrischen Daten der Faserelemente direkt in einen ausführbaren Maschinencode. Dieser Ansatz schloss die Lücke zwischen Forschung und industrieller Anwendung und bewies die Effizienz digitaler Planungs- und Fertigungsmethoden.
Zukunftsperspektiven: Biobasierte Hybrid-Bausysteme
Die an der Universität Stuttgart durchgeführten Forschungen zu integrativen digitalen Planungs- und Fertigungsprozessen, die auf biobasierten Hybrid-Bausystemen beruhen, werden im Rahmen des Exzellenzclusters „Integrative Computational Design and Construction for Architecture“ fortgesetzt. Ziel ist es, innovative Lösungen für nachhaltige Architektur zu entwickeln und dabei Forschung und Industrie noch stärker zu verbinden.
Zitate:
„Der Hybrid-Flachs Pavillon ist das Ergebnis mehrjähriger Forschung des Exzellenzclusters „Integratives Computerbasiertes Planen und Bauen für die Architektur (IntCDC)“ an der Universität Stuttgart und zeigt wie biobasierte Materialien und bioinspirierten Strukturen neue Wege für eine regenerative und zugleich ausdrucksstarke Architektur aufzeigen können.“
Professor Achim Menges, Sprecher des Exzellenzcluster IntCDC „Integratives Computerbasiertes Planen und Bauen für die Architektur“ an der Universität Stuttgart.
„Dieser Pavillon ist das erste Gebäude weltweit, das auf diese Weise Naturfasern verwendet.“
Professor Jan Knippers, Leiter des Instituts für Tragkonstruktionen und konstruktives Entwerfen an der Universität Stuttgart.
Projekt: |
Projektname: Hybrid-Flachs Pavillon |
Standort: Wangen im Allgäu |
PROJEKT PARTNER |
Exzellenzcluster IntCDC - Integratives computerbasiertes Planen und Bauen für die Architektur, Universität Stuttgart |
ICD Institut für Computerbasiertes Entwerfen und Baufertigung Prof. Achim Menges, Rebeca Duque Estrada, Monika Göbel, Harrison Hildebrandt, Fabian Kannenberg, Christoph Schlopschnat, Christoph Zechmeister |
ITKE Institut für Tragkonstruktionen und konstruktives Entwerfen
Prof. Dr. Jan Knippers, Tzu-Ying Chen, Gregor Neubauer, Marta Gil Pérez, Renan Prandini, Valentin Wagner, mit Unterstützung von: Daniel Bozo, Minghui Chen, Peter Ehvert, Alan Eskildsen, Alice Fleury, Sebastian Hügle, Niki Kentroti, Timo König, Laura Marsillo, Pascal Mindermann, Ivana Trifunovic, Weiqi Xie |
Landesgartenschau Wangen im Allgäu 2024 Karl-Eugen Ebertshäuser, Hubert Meßmer |
Stadt Wangen im Allgäu |
HA-CO Carbon GmbH Siegbert Pachner, Dr. Oliver Fischer, Danny Hummel |
STERK abbundzentrum GmbH Klaus Sterk, Franz Zodel, Simon Sterk |
FoWaTec GmbH Sebastian Forster |
Biedenkapp Stahlbau GmbH Stefan Weidle, Markus Reischmann, Frank Jahr |
Harald Klein Erdbewegungen GmbH Harald Klein |
PROJEKT KOOPERATIONEN |
Wissenschaftliche Kooperation: |
IntCDC Large Scale Construction Laboratory Sebastian Esser, Sven Hänzka, Hendrik Köhler, Sergej Klassen |
Weitere beratende Ingenieure: Belzner Holmes und Partner Light-Design Dipl.-Ing. (FH) Thomas Hollubarsch, Victoria Coval |
BiB Concept (Brandschutzplanung) Dipl.-Ing. Mathias Langhoff |
Collins+Knieps Vermessungsingenieure Frank Collins, Edgar Knieps |
Moräne GmbH - Geotechnik Bohrtechnik Luis Ulrich M.Sc. |
Spektrum Bauphysik & Bauökologie Dipl.-Ing. (FH) Markus Götzelmann |
wbm Beratende Ingenieure Dipl.-Ing. Dietmar Weber, Dipl.-Ing. (FH) Daniel Boneberg |
lohrer hochrein landschaftsarchitekten und stadtplaner gmbh verantwortlich für die Gesamtgeländeplanung |
Baugenehmigung: Landesstelle für Bautechnik Dr. Stefan Brendler, Dipl.-Ing. Steffen Schneider |
Prüfingenieur Prof. Dr.-Ing. Hans Joachim Blaß, Dr.-Ing. Marcus Flaig |
Versuchsanstalt für Stahl, Holz und Steine, Karlsruher Institut für Technologie (KIT) Prof. Dr.-Ing. Thomas Ummenhofer, Dipl.-Ing. Jörg Schmied |
MPA-Materialprüfungsanstalt, Universität Stuttgart Melissa Lücking M.Sc., Dipl.-Ing (FH) Frank Waibel |
Baukooperation |
Stauber + Steib GmbH |
PROJEKT UNTERSTÜTZUNG |
DFG Deutsche Forschungsgemeinschaft |
Dieses Projekt wurde durch das Ministerium für Ernährung, Ländlichen Raum und Verbraucherschutz Baden-Württemberg unterstützt. |
Bioökonomie Baden-Württemberg: Forschung- und Entwicklung (FuE) Förderprogramm “Nachhaltige Bioökonomie als Innovationsmotor für den Ländlichen Raum” |
Holz Innovativ Programm (HIP), Ministerium für Ernährung, Ländlichen Raum und Verbraucherschutz Baden-Württemberg |
IFB Institut für Flugzeugbau, Universität Stuttgart |
ISW Institut für Steuerungstechnik der Werkzeugmaschinen und Fertigungseinrichtungen, Universität Stuttgart |